Der Morgen ist ein anderer als der Abend
28. September 1945
Die Luft ist mild, ein Spätsommertag sollte Freude am Leben bereiten und die Zukunft mit einbeziehen.
Im „Arnoldhaus“ allerdings empfinden die anwesenden Personen die Luft sehr bedrückend, weil Angst und Hoffnung sich paaren und die Ängste sich immer mehr ausbreiten, dieses auf schlimme Art und Weise. Denn noch immer fehlt eine Nachricht vom Mann der jungen Frau, vom Vater der beiden Mädchen, vom Sohn.
Der grausame Krieg ist seit vier Monaten beendet.
Wohltuende und kluge Parolen sind aus dem Radio zu hören:
„Ein Deutscher soll nie wieder ein Gewehr in die Hand nehmen!“
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Was die Person, Heinz Arnold, betrifft, liegt alles im Ungewissen. Zum letzten Aufenthalt in der Familie, wenige Urlaubstage standen dafür zur Verfügung, das Ende des Krieges war abzusehen, hatte es bei den erwachsenen Familienmitgliedern verstiegene Überlegungen gegeben. Der Jagdflieger, * Oberfeldwebel, 26 Jahre alt, trug sich mit dem Gedanken, nicht zur Staffel, zum Jagdgeschwader 7, zurückzukehren, sich zu verstecken, das Ende des Krieges abzuwarten, weil schlimme Vorahnungen eine Rolle spielten! Jeder Mensch hängt am Leben. Heinz Arnold hatte es bis dahin geschafft. Das Kriegsende stand unmittelbar bevor. Er wollte am Leben bleiben, die Zukunft mit aufbauen, im Frieden seine Fähigkeiten und Fertigkeiten als Flieger im zivilen Bereich einsetzen; hoffte deshalb auf eine Rückkehr zu seiner geliebten, hübschen Frau, seinen beiden Mädchen, Brigitte und Carla, seinen Eltern, Oswin und Elisabeth. Allerdings wusste er, dass Deserteure, die man entdeckte, sofort erschossen worden sind. Deshalb sehnte sich der junge Mensch einen Ausgang herbei, der eine „gesunde Rückkehr“ möglich machen würde.
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Alle in der Familie hoffen noch immer!
Dieses Hoffen beginnt jeden Morgen neu, verbunden mit Bangen, großen Ängsten und gegenseitigem Trösten. Traurige, ruhelose und manchmal auch verweinte Augen schauen sich an, oder jeder geht dem anderen aus dem Weg, um nicht die eigene Angst zu zeigen. Nur die beiden Mädchen werden verschont, sie erhalten von der Mutti und den Großeltern umso mehr Aufmerksamkeiten und Zuwendungen.
Jeder neue Tag lässt zum einen die Hoffnungen schwinden, aber auch den Strohhalm, an den sich geklammert wird, immer stärker wachsen. Dennoch begleiten den Alltag schreckliche und unerträgliche Gedanken.
Es gibt kaum etwas zu essen. Aber Kinder haben Hunger und wissen nicht, warum es zu wenig zu essen gibt. Die wenigen Hühner können gar nicht so viele Eier legen, wie sie gebraucht würden. Die Ziege im provisorisch eingerichteten Stall, der sich im Holzschuppen befindet, ist weiblich, gibt Milch ab, doch sie braucht Futter und der Ertrag schmeckt eigentlich nur den Großeltern, nicht den Mädchen und deren Mutter. Ohne Worte sind sie sich einig, dass die Milch einen komischen, eigenartigen Geruch ausstrahlt und auch so schmeckt. So bleibt der Hunger ein ständiger Begleiter.
Die Großeltern sind, wie man so schön sagt, ausgesprochene „Nachteulen“ und „Leseratten“. Sie verfügen über eine eigene Bibliothek mit zahlreichen Büchern aus den verschiedensten Bereichen der Literatur. Außer dieser Liebhaberei für Bücher sind sie dazu Musikliebhaber. Im Wohnzimmer steht auf einer Anrichte ein Grammophon. In der Schublade darunter sind eine Menge Schallplatten mit bekannten Musikstücken zu finden. Großvaters Lieblingsstück ist nach wie vor der „Radetzkymarsch“, komponiert von Johann Strauß/Vater, auch „heimliche Hymne“ von Österreich genannt. Es ist nicht mehr zu sagen, woher Großvater es hat, aber er singt oft dazu seinen eigenen Text.